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Medizinethik

Ethik

Wie es auf der Seite Moral skizziert wurde, ist die Moral die Sitte: was man tun darf, was man tun soll, was man nicht tun darf. Eine ärztliche Moral ist also die ärztliche Sitte. Die entsprechende Bezeichnung für Moral im Griechischen lautet ethos = Sitte. Unter Rückgriff auf dieses griechische Wort wird die ärztliche Moral im Fachjargon als ärztliches Ethos bezeichnet.

Die ärztliche Sitte - die ärztliche Moral oder das ärztliche Ethos - würde, wenn wir sie hätten, Regeln für erlaubtes, gebotenes und verbotenes ärztliches Handeln umfassen, sofern dafür nicht das medizinische Sachwissen zuständig ist. Analog dazu müsste man auch für die medizinische Forschung eine Forschungssitte erwarten. Doch wie gelangt man zu einer solchen Sitte: Zu einer ärztlichen Sitte für den Arzt und zu einer Forschungssitte für den medizinischen Wissenschaftler? Sehr weit liegt die Antwort nicht: durch eine Sittenlehre!

Ethik ist nichts anderes als genau eine solche Sittenlehre. Sie reflektiert über die Moral, indem sie ihre Regeln und Normen identifiziert, analysiert, ihren Sinn und Zweck erforscht, ihre Angemessenheit untersucht und hinterfragt, sie miteinander in Beziehung setzt, sie kritisiert, verbessert oder verschlimmbessert, die moralischen Aspekte einer bestimmten Situation analysiert, Methoden der Lösung von moralischen Konflikten erarbeitet usw. Da sie insgesamt die Moral zu ihrem Gegenstand hat, handelt es sich dabei um eine Theorie der Moral. Sie wird auch Moralphilosophie genannt.

Während sich die Moral auf der Verhaltensebene abspielt, nennen wir sie die Ebene 1, stellt die Ethik die Ebene 2 dar, also eine Metaebene über die Moral, über das Regelsystem des moralischen Handelns, weil sie direkt das Regelsystem selbst zum Gegenstand hat. Indirekt durch die Konstituierung oder Modifizierung des Regelsystems beeinflusst sie offensichtlich auch das moralische Verhalten der betreffenden Menschen und Gruppen. Das heißt, dass eine Ethik als eine Theorie der Moral nicht folgenlos ist und daher nicht nur zum eigenen Vergnügen des Ethikers oder der Ethikerin betrieben werden darf. Sie hat Konsequenzen für die Gesellschaft.

Ethik ≡ Sittenlehre, Theorie der Moral, Moralphilosophie. Sie untersucht moralische Regel- und Normensysteme (der Ebene 1) auf der Ebene 2, einer Metaebene. Somit ist sie eine Metatheorie des moralischen Verhaltens und Handelns.

Dabei muss man zwischen zwei Vorgehensweisen unterscheiden. Entweder beschreibt eine Ethik lediglich, wie ein bestimmtes Moralsystem im Einzelnen aussieht, wie seine Regeln zusammenhängen, wo sie herkommen usw. Dann handelt es sich dabei um eine deskriptive Ethik. Oder aber sie formuliert und empfiehlt oder gar diktiert ein bestimmtes moralisches Regel- und Normensystem. In diesem Falle wäre sie eine normative Ethik. Die Grenze zwischen den beiden ist allerdings unscharf. Eine normative Ethik kommt ohne deskriptive Elemente nicht aus. Zu beachten ist ferner, dass die Medizinische Ethik, die den Gegenstand dieser Webseite darstellt, eine normative Ethik sein will. Denn sie will uns ja nicht - nur - darüber informieren, wie die Moral der Ärzte oder der medizinischen Wissenschaftler tatsächlich aussieht. Darüber hinaus und vor allem will sie diese Moral normieren, indem sie beispielsweise das Arzt-Patient-Verhältnis, die Sterbehilfe, die Stammzellenforschung und viele andere Dinge durch neue Vorschläge, Vorschriften und Codices reglementieren will.

Da ein Ethiker oder eine Ethikerin ein jeweils bestimmtes Moralsystem X untersucht, beispielsweise als eine Westeuropäerin das Moralsystem eines Indianerstamms, leuchtet es ein, dass er oder sie nicht unbedingt im Sinne dieser Moral X ein moralischer Mensch sein muss. Aus der Perspektive dieser Moral X kann er oder sie eine unmoralische Person sein, weil sie als eine Westeuropäerin nicht gemäß dieser Moral X lebt, sondern ein anderes Moralsystem befolgt. Das bedeutet in einem Wort, dass ein Ethiker oder eine Ethikerin aus der Perspektive der von ihm/ihr untersuchten oder vorgeschlagenen Moral, überspitzt formuliert, selbst ein unanständiger Mensch sein kann. Ethikbetreiben ist keine Garantie für die Moralität der betreffenden Person. Im Gegenteil, unter den Ethikern und Ethikerinnen befinden sich die unanständigsten Menschen.

Aus diesen und aus gleich zu erörternden Gründen darf und sollte man vernünftigerweise auch die Art und Weise eines Ethikbetreibens ebenso wie die Inhalte, die dabei herauskommen und empfohlen werden, hinterfragen: "Warum soll ich ausgerechnet Ihre Ethik ernstnehmen und akzeptieren? Was sind Ihre Gründe dafür?".

Ein Ethiker oder eine Ethikerin, die/der als ein Moralapostel auftritt, ist von vorneherein suspekt. Denn ebenso wie es eine potentiell unendliche Anzahl von Moralen möglich ist, gibt es gleichermaßen auch eine unübersehbare Menge von Ethiken. Doch wie differenziert man zwischen ihnen, wie beurteilt man ihre eigene Güte, Angemessenheit und Akzeptabilität? Das ist offenbar eine Frage, die nicht mehr innerhalb einer Ethik selbst beantwortet werden kann, weil sie diese Ethik selbst zum Gegenstand hat und somit auf einer um eine Stufe höheren Ebene, der Ebene 3, behandelt werden muss. Auf dieser Ebene 3 ist die Ethik und sind die Ethiken selbst das Objekt der Betrachtung, Analyse und Beurteilung. Diese Wissenschaft heißt daher auch Metaethik (→ nächste Seite).